Beginn der Kündigungsfrist bei umfangreicher Compliance-Untersuchung

BAG, Urteil vom 05.05.2022 – 2 AZR 483/21

Gemäß § 626 Abs. 2 BGB kann eine außerordentliche Kündigung nur innerhalb von zwei Wochen erklärt werden. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Kündigungsberechtigte von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt. Maßgeblich für den Fristbeginn sind nach ständiger Rechtsprechung eine zuverlässige und möglichst vollständige positive Kenntnis des Kündigungsberechtigten von den einschlägigen, also allen für und gegen die Kündigung sprechenden, Tatsachen. Wann aber beginnt diese Ausschlussfrist bei komplexen und undurchsichtigen Compliance-Untersuchungen im Unternehmen? Mit dieser interessanten Frage hatte sich nunmehr das Bundesarbeitsgericht (BAG) zu beschäftigen.

Sachverhalt

Die Parteien stritten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Kläger war als Vertriebsleiter bei der Beklagten beschäftigt. Diese entwickelte Militärtechnik und pflegte Geschäftsbeziehungen zum Bundesverteidigungsministerium sowie zur Bundeswehr. Aus diesem Grund galten bei der Beklagten umfangreiche Geheimhaltungsvereinbarungen. Im Juli 2018 erhielt die Beklagte Hinweise, dass als Verschlusssachen deklarierte Dokumente des Verteidigungsministeriums verbreitet wurden. Daraufhin leitete man umfassende Untersuchungen ein, um den Sachverhalt aufzuklären. Diese wurden zunächst durch den Compliance-Leiter der Beklagten angeführt. Darüber hinaus wurde eine externe Kanzlei mit weitergehenden Untersuchungen betraut, die sich insgesamt gegen 89 Personen richteten. Im Juni 2019 wurden die Ermittlungen des Compliance-Teams unterbrochen, um einen Zwischenbericht zu verfassen, der die Geschäftsführung über den aktuellen Kenntnisstand informieren sollte. Der Zwischenbericht wurde der Geschäftsführung der Beklagten zusammen mit einem Bericht der beauftragten Kanzlei am 16. September 2019 übergeben. Die Beklagte kündigte dem Kläger zehn Tage später außerordentlich wegen des Verdachts der Weitergabe vertraulicher Unterlagen. Dagegen erhob der Kläger zunächst erfolgreich Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht Ulm. Dessen Urteil wurde durch das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg aufrechterhalten. 

Entscheidung des BAG 

Das BAG hielt die außerordentliche Kündigung demgegenüber für wirksam, hob das Urteil der Berufungsinstanz auf und verwies die Sache an diese zurück. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen war die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB nach Ansicht des Bundesgerichts eingehalten, da sie erst mit dem Zugang des Berichts der beauftragten Kanzlei bei der Geschäftsführung begonnen habe. Erst dieser Bericht habe alle Tatsachen aufgeführt, die erforderlich waren, um die Pflichtverletzungen und die Beteiligungsverhältnisse der 89 Personen zu bewerten. Zwar sei auch der Compliance-Leiter der Beklagten regelmäßig über den Stand der Ermittlungen informiert worden. Zum einen sei jedoch unklar geblieben, über welche Kenntnisse er zu welchem konkreten Zeitpunkt verfügte, zum anderen könne der Geschäftsführung diese Kenntnis nicht zugerechnet werden. Es komme einzig und allein auf die Kenntnis der Geschäftsführung der Beklagten selbst an. 

Auch ging das BAG davon aus, dass die Weiterleitung der kündigungsrelevanten Tatsachen an die Geschäftsführung nicht treuwidrig verzögert und die Ausschlussfrist damit nicht rechtsmissbräuchlich verlängert worden ist. Eine zielgerichtete Vereitelung der Weiterleitung der Untersuchungsergebnisse habe man nicht feststellen können. Vielmehr spreche die Existenz einer Compliance-Abteilung sowie die Unterbrechung der Ermittlungen zum Zwecke der Erstellung des Zwischenberichts als erste Entscheidungsgrundlage für die Geschäftsführung für die Redlichkeit des Unternehmens. 

Fazit 

Das BAG stellt klar, dass Arbeitgeber die Möglichkeit der außerordentlichen Kündigung nicht verlieren, solange eine – wenn auch komplexe und langwierige – Compliance-Untersuchung stattfindet, und stellt den Abschluss der Ermittlungen sowie den Zeitpunkt der Berichterstattung an die Geschäftsführung weitestgehend ins Ermessen der Compliance-Abteilung des Arbeitgebers. Zwar widerspricht die Rechtsauffassung des BAG auf den ersten Blick dem Sinn und Zweck der Ausschlussfrist, dem zu Kündigenden zügig Klarheit darüber zu verschaffen, ob auf sein möglicherweise pflichtwidriges Verhalten mit einer Kündigung reagiert wird. Dem ist aber entgegenzuhalten, dass es letztendlich doch im Interesse des Arbeitnehmers liegt, dass keine überstürzte Entscheidung auf unsicherer Tatsachengrundlage über seine fristlose Kündigung getroffen wird, sondern vielmehr zuvor zulässiger- und notwendigerweise eine umfassende Aufarbeitung des Compliance-Verstoßes erfolgt. Zu beachten ist allerdings, dass Arbeitgeber die Compliance-Untersuchungen nicht beliebig ausdehnen können, ohne die Ausschlussfrist des § 626 Abs. 2 BGB in Gang zu setzen. Es ist im Einzelfall zu prüfen, ob weitere Ermittlungen zur Aufklärung des Verstoßes noch sinnvoll erscheinen oder beispielweise nur noch der Prävention künftiger Verstöße dienen.

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